SCHUBERT: Die schöne Müllerin

Franz Schubert
Lebensdaten: 31. Januar 1797 Wien - 19. November 1828 Wien
Werk: Die schöne Müllerin, D 795
Epoche: Romantik
Entstehungszeit: 1823
Besetzung: Gesang und Klavier
Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde, 6 Minuten
Lieder:

  1. Das Wandern
  2. Wohin?
  3. Halt!
  4. Danksagung an den Bach
  5. Am Feierabend
  6. Der Neugierige
  7. Ungeduld
  8. Morgengruß
  9. Des Müllers Blumen
  10. Tränenregen
  11. Mein!
  12. Pause
  13. Mit dem grünen Lautenbande
  14. Der Jäger
  15. Eifersucht und Stolz
  16. Die liebe Farbe
  17. Die böse Farbe
  18. Trockne Blumen
  19. Der Müller und der Bach
  20. Des Baches Wiegenlied

Schuberts anerkanntester Beitrag zum musikalischen Kanon war nicht nur seine revolutionäre Herangehensweise an das Kunstlied, sondern seine Kombination aus grundlegend miteinander verknüpften Liedern zu Zyklen, wie sie in seinen beiden Zyklen auf Texten von Wilhelm Müller exemplifiziert wurde, nämlich Die schöne Müllerin von 1823 und Die Winterreise von 1827. "Ein böser Wink des Schicksals", so spekulierte Schubert-Forscher Richard Capell 1928, "und Die schöne Müllerin hätte zu einer weiteren jener weitschweifenden Erzählungen werden können, die über jeden lyrischen Anstand hinaus ausgedehnt wurden und mit denen uns Schubert von Zeit zu Zeit, um es direkt zu sagen, ziemlich gelangweilt hat. Dank Müller war es etwas völlig anderes - neu und unaufhörlich fesselnd. Der allerwichtigste Vorteil ist der, dass die Unterbrechungen im Konzert mit der Zeit eine Aneinanderreihung neuer Standpunkte anbieten: es wird uns ein Drama enthüllt in einer Reihe an lyrischen Momenten." Man muss Capells oberflächliche und unerbittliche Verallgemeinerungen von Schuberts Werken nicht teilen, um zu begreifen, dass Schubert mit der schönen Müllerin einen Weg gefunden hat sein Talent für ergreifende Melodik mit den Anforderungen der groß angelegten Form wieder zusammenzuführen - auf außergewöhnliche und synergetische Weise.

Dennoch liegt etwas Paradoxes im letzten Satz von Capells Ausführung, die als Vorteil aufzuführen scheint, was andernorts als Nachteil ausgelegt zu werden scheint: dass die Momente selbst, anstatt eine gut konstruierte Komposition zu erschaffen mit einer an Beethoven heranreichenden bautechnischen Integrität, gerade so ergreifend sind, dass sie die Hörer alle Schwächen im musikalischen, poetischen und semantischen Makrokosmos vergessen lassen. Mit dieser Ansicht resoniert eine übliche Reaktion auf Schuberts instrumentale Werke - dass die Unvollendete beispielsweise aus einer beträchtlichen Bandbreite an Melodien aufgebaut ist, jede an beeindruckender Qualität, was jeden Versuch einer Analyse ihrer Arrangements und Beziehungen als pedantisch disqualifiziert. Weil er vielleicht realisierte, dass abhängig vom Niveau des Textes an semantischer Allgemeingültigkeit, seine Herangehensweise als Komponist Konsistenz vermissen lässt, nutzte Schubert die wiederkehrenden Bilder in Müllers Texten (das Fließen des Baches, die Umlaufbahn des Mühlenrads) und ließ sie als eine Art vereinheitlichenden, semantischen Raum dienen, in dem seine wunderbaren "lyrischen Momente" auftreten können.

Der erste der Texte des Liederzyklus etabliert schnell die unruhig und manchmal unbehaglich zyklischen Wege, die die 20 Lieder einschlagen werden und man kann unmittelbar annehmen, dass dies nicht eine Erzählung von Ereignissen sein wird, sondern vielmehr eine Erkundung gewisser wiederkehrender, ausdrucksstarker Stimmungen: "Das Wandern ist des Müllers Lust... das Wandern, das Wandern, das Wandern..." Die zweiteilige Strophennatur des Liedes findet ihren Nachhall in den metaphorisch zyklischen Bildern des Textes: das Wasser, das seinen ewigen Lauf nimmt; das Rad an der Mühle, das vom Strom des Baches in Bewegung gebracht wird; die Mühlsteine in der Mühle, die das endlose Wandern des Wassers übertragen.

Strophenformen reflektieren diese wiederkehrenden Symbole, während sie eine überraschende Bandbreite an Ausdruck gestatten. In "Die liebe Farbe" beispielsweise begleitet eine gänzlich strophische (wiederholte) Melodie drei Verse an Text mit weit gestreuten Effekten. Im ersten spricht der Erzähler von grünen Verzierungen, die er anlegen möchte, um seiner Liebsten zu gefallen, da Grün ihre Lieblingsfarbe ist. Im zweiten Vers ist ein Jäger das Thema, der "durch Heid' und Hagen" jagt, vermutlich in Jagdgrün. Die Hörer nehmen nun an, dass der Jäger die Geliebte des Erzählers geraubt hat, denn im letzten Vers ist das Grün, das er tragen soll, das Grün auf seinem Grab. Die einstmals aufgeweckte Melodie hat sich nun ohne offenkundige musikalische Hilfsmittel verwandelt zur Stimme der Ironie und Bitterkeit (was Schuberts angebliche Meinung unterstreicht, dass es so etwas wie wirklich "fröhliche Musik" nicht gäbe). Indem er im Text nach Zusammenhängen sucht, findet Schubert sogar noch ausdrucksstärkere Möglichkeiten in der Musik selbst.

(c) Jeremy Grimshaw, Richard Capell

Kaufempfehlung:
Sigfried Lorenz (Bariton), Norman Shetler (Klavier)
Label: Berlin, DDD, 1987
YouTube:
Christoph Prégardien (Tenor), Michael Gees (Klavier)
1. Mai 2015 bei der Schubertiade Hohenems

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