STRAWINSKY: Le sacre du printemps

Igor Strawinsky
Lebensdaten: 17. Juni 1882 Oranienbaum (Russland) - 6. April 1971 New York City (NY, USA)
Werk: Le sacre du printemps (Wesna Swjaschtschennaja, Die Weihe des Frühlings)
Epoche: Moderne
Besetzung: Orchester
Entstehungszeit: 1911-1913
Uraufführung: 29. Mai 1913 im Théâtre des Champs-Élysées in Paris (Frankreich)
Aufführungsdauer: ca. 35 Minuten
Teile:

  • Nr. 1a, Introduction (Introduktion)
  • Nr. 1b, Augures printaniers - Danses des adolescentes (Die Vorboten des Frühlings - Tanz der jungen Mädchen)
  • Nr. 1c, Jeu du rapt (Entführungsspiele)
  • Nr. 1d, Rondes printanières (Frühlingsreigen)
  • Nr. 1e, Jeu des cités rivales (Spiele der rivalisierenden Stämme)
  • Nr. 1f, Cortège du Sage (Prozession des alten Weisen)
  • Nr. 1g, L'Adoration de la terre (Kuss der Erde)
  • Nr. 1h, Danse de la terre (Tanz der Erde)
  • Nr. 2a, Introduction (Introduktion)
  • Nr. 2b, Cercles mystérieux des adolescentes (Mystischer Reigen der jungen Mädchen)
  • Nr. 2c, Glorification de l'élue (Verherrlichung der Auserwählten)
  • Nr. 2d, Évocation des ancêtres (Anrufung der Ahnen)
  • Nr. 2e, Action rituelle des ancêtres (Rituelle Handlung der Ahnen)
  • Nr. 2f, Danse sacrale (Opfertanz)

Zum Glück scheinen die Tage gezählt für zumindest eine Entwicklung, deren Feuer Strawinskys "Le sacre du printemps" (1913) entfachte: Versreime in pseudo-Dr. Seuss-Stil als Ersatz für Konzertkritiken, z.B:

Who wrote this fiendish Rite of Spring
What right had he to write the thing,
Against our helpless ears to fling
Its crash, clash, cling, clang, bing, bang, bing?
And then to call it Rite of Spring,
the season when on joyous wing
The birds melodious carols sing
And harmony's in everything!
He who could write the Rite of Spring,
If I be right, by right should swing!

(deutsche Übersetzung ohne Rücksicht auf Reim in etwa:
Wer schrieb diese teuflische Weihe des Frühlings
Welches Recht hatte er dies zu schreiben,
Sie unseren hilflosen Ohren entgegenzuschleudern
Ihr Rums, Klirr, Kling, Klang, Puff, Paff, Puff?
Und es dann noch Weihe des Frühlings zu nennen,
Die Jahreszeit, wenn mit frohen Flügeln
Die Vögel melodiöse Lieder singen
Und Harmonie in allem liegt!
Der diese Weihe des Frühlings schreiben konnte,
Wenn ich Recht habe, dann soll er rechtmäßig am Galgen hängen!)

Nun erscheint das Umbringen des Komponisten - das der anonyme Autor im Boston Herald des 9. Februar 1924 in seiner letzten Strophe anscheinend befürwortet - etwas übertrieben als Strafe, aber man muss daran denken, dass solche Schmähungen sich nahtlos in die Aura des ''Succès de scandale'' einreihte, die die Sacre seit ihrer Uraufführung in Paris etwa zehn Jahre zuvor umgab. Die Wirkung dieses legendären Konzertes (sowie ähnlich "lebhafter" Rezeptionen des Werks an anderen Orten) trieb die Anerkennung des Werks als rundum bahnbrechendes Ereignis und Errungenschaft in der Sozialgeschichte und Kunst des 20. Jahrhunderts sicherlich voran. Will man frühe Reaktionen auf die Sacre verstehen, lohnt es sich zu bedenken, dass während Strawinsky an einem relativ frühen Punkt in seiner Karriere war, eine ganze Reihe an älteren, bekannten und traditioneller aufgestellten Komponisten - Strauss, Saint-Saëns, Sibelius, Elgar und, ja, Rachmaninow - weiterhin aktiv waren und im Publikum nach wie vor ziemlich Geltung hatten. Gleichzeitig war das von den Mitarbeitern der Sacre - Strawinsky, der Folklorist und Künstler Roerich, Choreograf Nijinsky und Impresario Djagilew - angenommene Szenario weit entfernt von den üblichen vornehmen, sensiblen und romantischen Themen, die bis dahin das Ballett dominiert hatten. Diese Sammlung von "Bildern aus dem heidnischen Russland" (der Untertitel des Werks) beschäftigt sich mit einer Erkundung der Natur, sowohl menschlicher und der der Erde selbst, durch die Rituale der Erneuerung - letztendlich menschlichen Opfern - einer früheren, "primitiveren" Gesellschaft.

Die Titel der beiden Hauptteile des Balletts, "Die Anbetung der Erde" und "Das Opfer", sowie jene seiner inneren Unterteilungen, machen die ritualhafte, sakrale und unantastbare Entwicklung der Geschehnisse, die mittels Musik und Choreographie nachgespielt werden, sowie die Bestandteile jener Entwicklung klar. Strawinsky unterdrückt und dann nach und nach steigert meisterhaft das Gespür der brutalen Unausweichlichkeit im Verlauf des gesamten Werks, während er in individuellen Szenen spezifischere Elemente zusammenfasst. Die Einführung hebt den Vorhang für die Erde selbst, das charakteristische Fagottsolo legt klagend eine gedämpfte, andächtige Stimmung fest. Komplexere Farben - die Strawinsky erreicht durch extreme Umfänge der Instrumente (wie im zuvor genannten Beispiel), spezielle Spieltechniken und endlos wechselnde Kombinationen aus seinem in großem Stil erweiterten Orchester - treten sukzessive auf und erweitern sich, nur um urplötzlich von einem Relikt des ursprünglichen Fagottthemas abgeschnitten zu werden. Die "Vorboten des Frühlings" beginnen mit einem der berühmtesten Akkorde der Musikgeschichte, einem knirschenden, bitonalen Klanggeschirr, das erbarmungslos in beständigem 2/4-Takt metrisch undefiniert mit unvorhersehbar wechselnden Akzenten eingehämmert wird.

Vergleichbare Beispiele von solch rhythmischer und harmonischer Härte sind im gesamten Werk im Überfluss vorhanden, diese Elemente übernehmen zusammen mit der instrumentalen Klangfarbe sowohl individuelle wie auch kollektive Rollen auf analoge Art zu jenen der Figuren. Wie auch die von Strawinsky in ihrem Porträt verwendeten musikalischen Elemente fungieren die Mädchen, Kinder und Älteren zusammen innerhalb der Identität ihrer Gesellschaft, nehmen gleichzeitig einzelne Rollen ein und behaupten sie in Beziehung zu einander. Die Handlung bahnt sich in einer zunehmend rasenden Flugbahn ihren Weg und findet ihren Gipfelpunkt - in einer Art ursprünglichem Äquivalent zu kalter Logik - im aufgeladenen, kompromisslosen Opfertanz, der sowohl das Ballett, als auch den Zyklus seines Rituals beendet.

(c) Michael Rodman

Kaufempfehlung:
The Cleveland Orchestra, Dir. Pierre Boulez
Label: DGG, DDD, 1991
Berliner Philharmoniker, Dir. Simon Rattle
Label: Arthaus, 2005
YouTube:
Ballett und Orchester des Mariinski-Theaters St. Petersburg, Dir. Waleri Gergijew
im Théâtre des Champs-Élysées in Paris, 29. Mai 2013

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