SCHUBERT: Die Winterreise

Franz Schubert
Lebensdaten: 31. Januar 1797 Wien (Österreich) - 19. November 1828 Wien (Österreich)
Werk: Die Winterreise, D 911
Epoche: Romantik
Entstehungszeit: 1827
Besetzung: Gesang und Klavier
Aufführungsdauer: ca. 1 Stunde, 12 Minuten
Lieder:

  1. Gute Nacht
  2. Die Wetterfahne
  3. Gefror'ne Tränen
  4. Erstarrung
  5. Der Lindenbaum
  6. Wasserflut
  7. Auf dem Flusse
  8. Ruckblick
  9. Irrlicht
  10. Rast
  11. Frühlingstraum
  12. Einsamkeit
  13. Die Post
  14. Der greise Kopf
  15. Die Krähe
  16. Letzte Hoffnung
  17. Im Dorfe
  18. Der stürmische Morgen
  19. Täuschung
  20. Der Wegweiser
  21. Das Wirtshaus
  22. Mut
  23. Die Nebensonnen
  24. Der Leiermann
Die Masse an musikwissenschaftlichen Behandlungen von Franz Schuberts Liederzyklus "Die Winterreise" ist Zeugnis der strukturellen und dramatischen Komplexität des Werks; die Beurteilungen reihen von komplizierten Diagrammen, vollständig mit ineinandergreifenden Achsen und kryptischen semantischen Bezeichnungen, bis zu unverblümten Seufzern der Resignation über die Widerspenstigkeit des Werks. Vielleicht ist es diese Faszination, die Künstler und Wissenschaftler gleichermaßen an diesem Werk anzieht; Sänger und Wissenschaftler Michael Besack verfolgt die unklare dramatische Flugbahn von Schuberts Zyklus bis zur Antike zurück: "die epische Poesie und das tragische Theater hatten nie eine Geschichte mit einer Moral produziert", betonte er.

Eine zentrale Frage bezüglich des Zyklus' ist, ob es tatsächlich einer ist. Die zwei dutzend Gedichte von Wilhelm Müller, die Schubert als seine Texte übernahm erschienen stückchenweise in drei verschiedenen Publikationen zwischen 1822 und der Fertigstellung von Schuberts Vertonung im Jahr 1827; Müllers dritte Publikation, die schließlich den später von Schubert übernommenen Titel trug, enthielt die neuesten Gedichte zusammen mit denen, die zuvor veröffentlicht worden waren (die letztgenannten wurden jedoch umgeordnet). Die Chronologie von Schuberts Vertonung zieht auch die Idee eines fortdauernden, zyklischen Erzählung in Zweifel: er vertonte Müllers ursprüngliche 12 Lieder früh im Jahr 1827 und stellte das andere Dutzend erst später im Jahr fertig. Dennoch lässt sich aus dem Zyklus leicht eine zusammengefasste Geschichte lesen, obwohl einige der einzelnen Lieder häufiger auch alleine gespielt werden. Literaturwissenschaftlerin Cecilia Baumann beschreibt das Werk als "eine einfache Geschichte eines zurückgewiesenen Liebhabers, der die Stadt verlässt, in der seine Liebe wohnt und sich im Winter auf eine ziellose Reise aufmacht." Schubert-Biograf Jacques Chailley liest eine andere Art der Reise: "nicht nur die eines verachteten Liebenden - er ist nur ein Phantom - sondern ein dahinterliegendes Bild, das man in jedem Moment der Reise des Mannes in Richtung Tod ausmachen kann: 'Die Winterreise' ist die ernste Reise des Lebens." Solch existenzielle Ideen erhalten Unterstützung von der Trostlosigkeit von 'Auf dem Flusse', worin des Liebhabers Beschreibung des zugefrorenen Baches in die eines physischen Leichnams überzugehen scheint, sowie von der Melancholie der Klage des Leiermanns, die den Zyklus beendet.

Die Lieder grübeln eher über Ereignisse, die dem zurückgewiesenen Liebenden widerfahren sind, anstatt sie zu schildern; wie die ersten beiden Zeilen des ersten Liedes andeuten ("Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh' ich wieder aus") hat die Reise bereits statt gefunden: das berühmte fünfte Lied, "Der Lindenbaum", dreht sich genauso um Symbole der Erinnerung. Schuberts Einführung legt eine ruhige Stimmung in Dur fest mit einer luftigen, flattrigen Begleitung; es wird offenbar, dass diese Phrase das Rascheln des titelgebenden Lindenbaums darstellt. "Ich schnitt in seine Rinde so manches liebe Wort", erzählt der Wanderer den Hörern, "es zog in Freud' und Leide zu ihm mich immer fort". Nur kurz wechseln die Tonart und die Stimmung der Musik zu Moll, in direkter Verbindung zu dem Bild den Baum in der Dunkelheit zu passieren. Diese bildhaften Elemente befinden sich jedoch nur auf der Oberfläche. Einige musikalische Elemente erschaffen einen Sinn von geographischem und chronologischem Entfernen: die Phrase des Raschelns wird beständig unterbrochen von einem Sprung nach oben zu einem wunderlichen, schrittartigen Abstieg; das Echo einer "Jagdhorn"-Phrase suggeriert Distanz - räumlich und zeitlich; der Wind bläst den Hut des Wanderers vom Kopf, er trottet aber weiter voran ohne sich auch nur umzublicken. Die Kälte vermittelt dem Hörer, dass es Winter ist; daher sind Blätter an Bäumen eher unwahrscheinlich. Der Klang des Raschelns ist also nicht real, sondern ein halluziniertes Phänomen: "Nun bin ich manche Stunde entfernt von jenem Ort und imme hör ich's rauschen: du fändest Ruhe dort!" Schuberts Lied beschwört keine Bilder hervor; es beschwört die Handlung des Erinnerns an Bilder hervor.

(c) Jeremy Grimshaw, Michael Besack, Cecilia Baumann, Jacques Chailley

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